Rotkreuzplatz

Hier in München wimmelt es von Zahnärzten. Zahnarzt werden kann jeder, ist leicht verdientes Geld. Und offensichtlich gibt es hier auch ausreichend Bedarf. Wir blicken aus dem Hotelzimmer auf die Landshuter Allee. Schon früh morgens sind die Straßen voll von Zahnärzten in ihren großen Autos und Patienten in ihren kleineren Autos und öffentlichen Verkehrsmitteln auf dem Weg in ihre Praxen und auf die Behandlungsstühle. Implantate allerorten. Abends fahren alle wieder zurück. In ihre überteuerten Wohnungen mit ihrem überteuerten Abendbrot. Nachts ist es eher ruhig und dunkel. Vermutlich übernehmen diese Zahnärzte auch Aufgaben der Geburtshilfe und Buchhandlungen. Wir werden das gleich nachher noch nachprüfen.

so zwischendurch

Gestern abend habe ich – par hasard – in den Münchner Kammerspielen ein Heftchen mit einem Text von A.L. Kennedy mitgenommen. Ich hatte meine Lesebrille nicht vor den Augen, es war also der allerschönste Zufall. Es geht um Hass in der Gesellschaft.
Und ich stolpere upunktapunkt über einen Satz, den ich sofort auch mit unserer Candice-Breitz-Debatte in Saarbrücken verknüpfe (wenn es denn überhaupt eine Debatte war):
„… Bevor der gemeinsame Diskurs vergiftet ist, bevor die Medien, bevor die Gerichte und Gesetze und Parlamente und alle demokratischen Mechanismen beschädigt sind, muss zuerst die Kunst versagen. Wir müssen beschädigt werden. Ich stehe hier also als Teil einer Gruppe, die versagt und Sie im Stich gelassen hat. Gleichzeitig bin ich auch Teil einer Gruppe, die immer noch helfen kann, mir selbst helfen, und helfen kann.“

Mir scheint das so erfrischend anders als dieses „für die Freiheit der Kunst!“. Damit hatte ich immer schon so meine Probleme. Die Freiheit der Menschen wäre mir lieber. „Die Kunst“, „die Literatur“, das scheinen mir so unpräzise Wischiwaschi-Begriffe. Freiheit des Denkens. Damit kann ich was anfangen. Kunst als Bollwerk zwischen Hass und friedlicher Gesellschaft. Yes. Kunst als Teil des Hasses. Hhmm…

Wir müssen zuerst beschädigt werden…

Ich gebe zu, ich habe diesen Satz noch nicht ganz durchdrungen.
Aber er arbeitet in mir mehr als der Kampf für die Freiheit der Kunst. Letzteres ist Platitüde.

mittelstadtgeschichten

Für die Mittelstadtgeschichten habe ich gerade „Das Integrations-Paradox“ von Aladin El-Mafaalani gelesen.
Auf Seite 231 lese ich folgende Sätze, die ich gerade am liebsten an alle Litfaßsäulen nageln möchte (aber man nagelt ja nix an Litfaßsäulen…)
„Streitkultur bedeutet nicht, dass man nur der Provokation wegen provoziert. Streitkultur bedeutet auch nicht, dem Kontrahenten seine Existenzberechtigung abzusprechen oder das Recht, seine Interessen zu artikulieren. Den anderen Menschen wertzuschätzen, aber nicht jede seiner Positionen – diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten, ist zentral. Und schließlich, den Konflikt nicht mit dem Ziel anzugehen, zu gewinnen, sondern sich zu verständigen, wo es geht, und um Teilhabe zu ringen. Dafür bedarf es einer gewissen Konfliktfestigkeit.  …

Eine Streit- und Konfliktkultur ist entsprechend zutiefst politisch. Das Politische hat im Prinzip immer mit unlösbaren Problemen zu tun. Im Kern eines jeden politischen Problems stecken grundsätzliche philosophische Fragen. Will man mehr Freiheit oder mehr Sicherheit? Ein total freies Internet würde zu Regellosigkeit und enormen Sicherheitsproblemen führen. Ein total sicheres Internet hingegen wäre aller Vorteile beraubt. Zudem gibt es weder totale Freiheit noch totale Sicherheit. …

Das Regulieren ist also nicht – wie es häufig falsch dargestellt wird – die Herstellung von Sicherheit und die Einschränkung von Freiheit, sondern die Ermöglichung von Freiheit und Sicherheit. …“