Bei dieser Zeichnung handelt es sich um ein kleines, DIN-A5 großes, Papier, Hochformat. Motiv und Material sind überschaubar. Ein klares Blatt mit klaren Gedanken und klaren Linien. Rechts sehen wir einen mit dickem Filzstift gezeichneten Stuhl, einen einfachen Stuhl, einfach gezeichnet, man sieht nur drei Stuhlbeine. An den Füßen der Stuhlbeine ist jeweils ein kleiner Schatten notiert, ebenfalls mit schwarzem dicken Filzstift angebracht. Und „angebracht“ beschreibt hier genau die Art und Weise, wie wir uns das vorstellen müssen. Als wären die Schatten wie kleine flatternde Fähnchen montiert. Die Stuhlbeine selbst jeweils mit drei Linien angesetzt, ein wenig an so etwas wie Perspektive erinnernd. An den linken Stuhlbeinen findet sich ein zartdunkelgelber Fleck, der sich wohl bereits auf dem Blatt befand, bevor die eigentliche Zeichnung dazugekommen ist. Dieser leicht wirkende Fleck gehört nun aber mit zur Familie und spielt seine Rolle nicht schlecht. In seiner zufällig wirkenden Form und der Leichtigkeit der Farbgebung schafft er einen Ausgleich zur Strenge der Konzeption des eigentlichen Motivs, macht das ganze leichter, betont vielleicht sogar die Leichtigkeit des dem Blatt zugrunde liegenden Gedankens, schafft Platz und Luft und Raum. Auf dem Stuhl befindet sich ein Kopf. Kein Körper. Nur der Kopf mit dem oberen Teil des Oberkörpers, wie wir das von klassischen Portraitbüsten her kennen. Im Profil nach links gesehen. Mit dünnerer Linie und sehr locker angelegt, in der Hauptsache die Umrisslinien betonend; eine Brille und ein Ohr und ein angedeuteter Kragen die wenigen Binnenformen, die das ganze etwas genauer bezeichnen. Dieser Kopf mitsamt der Rücklehne des Stuhls, die nichts mehr ist als eine kräftige gebogene Linie, die auf dem Hut des Kopfes endet, nimmt so ziemlich das gesamte rechte obere Viertel der Zeichnung ein. Ein im Verhältnis zum Stuhl sehr großer Kopf. Die schwungvolle Lockerheit der Linien dieser Portraitbüste sowie der Gesichtsausdruck sagen uns: das ist aber keine Büste, das hier ist lebendig! Und es befindet sich direkt auf der Sitzfläche des Stuhls (die keine Fläche ist, sondern eine einzige waagerechte kräftige Linie). Es sitzt nicht. Es befindet sich auf. Stuhl und Kopf als Einheit. Ein menschlicher Körper wird nicht gebraucht. Der Stuhl ist der Körper des Kopfes! Und der Kopf der Kopf des Stuhls. Der Kopf eines schon etwas älteren Herrns mit Hut. Das hatten wir, glaube ich, noch gar nicht erwähnt. Man denkt sich unwillkürlich: müsste man diesen Herrn erkennen? Könnte es sich um einen Philosophen handeln? Oder um Magritte? Duchamp? Einen Naturwissenschaftler? Oder muss man ihn gar nicht kennen? Steht er einfach nur für einen älteren Herrn mit Hut? Er blickt von uns aus gesehen nach links, ins Blatt hinein. Eine Sprechblase wurde ihm beigegeben: „Was man mit der Nase sieht“ steht da drin. Oberhalb der Sprechblase ein schwarzes „Sternchen“, so wie man es etwa bei Fußnoten verwendet (wobei es hier allerdings keine Fußnote gibt). „Was man mit der Nase sieht“ hat schon jemanden an Saint-Exupéry erinnert: man sieht nur mit der Nase gut – quasi. Oder mich sogar an Joseph Beuys‘: Ich denke sowieso mit dem Knie. Die Nase endet unten genauso in einer Spitze wie das rechte Ende der Sprechblase. Beide Spitzen kommen sich in der Zeichnung sehr nah. Mit der Nase sprechen. Mit der Nase sehen. Mit den Ohren denken. Die Gedanken scharf stellen vermittels eines Stuhls, einer Büste, eines Sternchens und einer Sprechblase. Die Gedanken unscharf stellen. Um sie wieder putzen zu können.