aus: der Radiozeichner

 

Zeichnung Nr.23: Saul Steinberg, aus der Reihe Spiegelungen, 2. Spiegelungen-Blatt aus „Die Entdeckung Amerikas“, Diogenes, 1992

Unser Blatt ist sehr puristisch gehalten. Keine Farbstifte, kein Aquarell, all das, was dieser Zeichner sonst immer wieder gerne benutzt hat: genau das fehlt hier. Ein roher, etwas krakeliger Strich, der teilweise an Kinderzeichnungen erinnert. Eine Zeichnung, die uns ästhetisch nix dahermacht. Eher was zu Denken als zum Genießen.

Wir sehen ein Querformat. Seitenverhältnis grob etwa 2:3. Waagerecht findet sich etwas oberhalb der Mitte: ein Horizont. Eine schnurgerade Linie, nicht krakelig, mit dem Lineal gezogen: Die Spiegelachse, die Leitlinie, an der sich, oberhalb und unterhalb, alles orientiert, ordnet und abspielt. Beziehungsweise abspiegelt.

Das Blatt gehört sinnigerweise zu einer Reihe mit dem Titel „Spiegelungen“.

Am unteren Blattrand, etwas rechts, steht an einem angedeuteten Ufer ein kleiner Mann mit Hut, der das ganze Szenario betrachtet. So wie wir auch.

Was spiegelt sich nun? Wir lesen das am besten von links nach rechts:

Ganz links am Blattrand: der Rest einer Insel, die gerade noch ins Blatt ragt. Ein stilisiertes Bäumchen darauf.

Danach, im Himmel: das Wort OHIO. Vier Buchstaben mit etwas Abstand, die sich exakt genau so unten in der Wasserfläche wiederfinden. O gespiegelt mit O ergibt O. H gespiegelt mit H ergibt H. Und so weiter und so fort eine glasklare geometrische Spiegelsache.

Danach sehen wir im Himmel einen Schwan, Kopf nach links. Aber ach: Er schwimmt und bespiegelt sich an einer kleinen eigenen Spiegelachse entlangschwimmend bereits an sich selbst, und zwar oben im Himmel, als sei hier bereits auch schon See. Doppelschwan im Himmel, der sich als eben diese Doppelfigur, wen wird das wundern, natürlich auch als Doppelschwanselbstbespiegler-Spiegelbild unten im Wasser wiedererkennbar wiederfindet.

Man könnte so drüberweggucken. Wie über so vieles im Leben.

Dann, weiter in Leserichtung nach rechts, wieder eine Sprachspiegelung. Im Himmel das Wort STAR. Stern. So etwas erwartet man da oben. Yesjawoll. Gespiegelt wird aber nicht S als S, T als T usw., sondern von hinten nach vorne: aus dem Stern werden die Ratten, aus dem STAR werden die RATS. Das gehört in die Schublade der Ideen, die ich selbst gerne gehabt hätte. Semantische Fallhöhe hoch 3. Mindestens. Einfach mal so eben weggespiegelt.

Um das verdauen zu können, macht es uns Saul Steinberg am rechten Blattrand etwas einfacher. Da finden wir dann wieder den Anfang (oder das Ende) einer Insel, vielleicht einfach auch nur einen Kai mit einer kleinen Fabrik mit rauchendem Schlot. Der Rauch stiehlt sich sowohl in Himmel und Wasser über den rechten Bildrand aus dem Geschehen heraus.

Unten rechts steht am Ufer der Mann mit Hut. Er allein bleibt ungespiegelt. Guckt aber in dieselbe Richtung wie wir. What you see ist what you get.

Zeichnen sei Denken auf dem Papier hat Saul Steinberg einmal gesagt.

Ja!

Ein ausgeprägter Spieltrieb kann beim Denken aber sehr gut helfen.

neu abgemischt: zu Zeichnung 23, Saul Steinberg

mit der Vertonung dieser Zeichnung habe ich mich bisher am schwersten getan. Heute morgen dann nochmal ein tieferer Mundharmonikaton drunter und komplett in einem Set neu eingespielt und gesprochen und das über eine der letzten Versionen gelegt, gekürzt, verknappt: und das isses jetzt sehr viel mehr als vorher: frecher, knapper, mehr auf dem Punkt.

der radiozeichner: nr 27 : zu einer Zeichnung von Johannes Grützke

Diese Zeichnung ist größer, als man sie sich vorstellt, sieht man sie nur als Abbildung in einem Katalog: 130x120cm. Die Aufrißzeichnung zu einem in Öl auf Leinwand ausgeführten Portrait. Es gilt auch die Vermutung: Der Begriff „Aufrißzeichnung“ meint hier, dass es sich quasi um die Anlage der grundlegenden Parameter für dieses Portrait direkt auf der nachher als Gemälde ausgeführten Leinwand handelt. Die Zeichnung ist also verschwunden, existiert nur noch als Foto und Abbildung im Katalog. Davon übrig geblieben ist einzig das fertige Gemälde. Was heißt Portrait?: Es geht also um die Darstellung und Erfassung einer bestimmten Person, in diesem Falle wohl eher: Persönlichkeit. Muss man wissen, wer Valeska Gert war, um die Zeichnung besser würdigen zu können? Es ist so, wie es oft ist: man sieht mehr, je mehr man weiß. Aber es ist auch so: die Zeichnung funktioniert auch ohne ein vertieftes Wissen über die dargestellte Persönlichkeit. Vor ein oder zwei Jahren bin ich bei youtube auf einen Mitschnitt der Talk-Show „Je später der Abend“ gestoßen, bei der Valeska Gert Anfang der 70er Jahre eingeladen war und erinnerte mich sofort an die Zeichnung in der Johannes-Grützke-Monografie aus dem Zweitausendeins-Verlag, die ich 1985 gekauft habe. Nicht zuerst an das Gemälde, sondern seine Aufriß-Zeichnung war also in erster Linie (sic) in der Erinnerung präsent, ohne dass ich damals wusste, wer da eigentlich dargestellt ist. Mit dunklen Kohlestrichen mittig ins Format gesetzt, 1978, kurz vor ihrem Tod entstanden, finden wir einen, das Format bestimmenden Kopf einer älteren Dame, große Nase, fast schon Karikatur, den Kopf von uns aus gesehen leicht nach links gewendet, den wach-lebendigen Blick aber direkt auf uns fixiert. Der Mund eine scharf geschittene Linie, einige senkrechte Falten nach oben hin abgehend. Auffallend im Verhältnis zu dem dominierenden Kopf: die beiden links und rechts unterhalb der Schultern platzierten Hände – man hat den Eindruck, die Arme fehlten, eine waagerechte Linie unterhalb der Handwurzeln versucht aber die Räumlichkeit zu klären: sitzt die Frau vielleicht zu niedrig an einem Tisch? Links und rechts hinter der Figur finden wir aber im Bogen abgehende, durch die Biegung auch etwas weicher wirkende Linien, die wir vielleicht als die Figur stützende Kissen lesen dürfen? Die Person sitzt aufrecht im Bett? Wie auch immer: die Lebhaftigkeit des Gesichtes steht in Kontrast zu den scheinbar fehlenden Armen, die Hände suchen zwar nicht wirklich Halt, liegen aber etwas ungenutzt auf der Decke. Trotzdem scheint es so, als ob die Person versuche, sich ein wenig zu uns hinzuziehen, um uns ihre Aufmerksamkeit besser widmen zu können. Zeichenkohle ist per se eigentlich ein weiches Material, erzeugt zwar klarschwarze Linien, kann leicht zum Grau hin verwischt werden, hier in diesem Aufrß wird sie aber sehr entschieden, recht hart eingesetzt. Die dunklen Haare etwa sind recht heftig notierte Striche, die sich, von einem Mittelscheitel ausgehend, nach links, bzw. rechts abbiegend wegbewegen. Eine wilde Person, da ist Bewegung drin will uns das wohl sagen. Körperliche Bewegung und Spannung als Ausdruck innerer Bewegung und Spannung. Wir dürfen den Charakter der Aufriß-Zeichnung nicht vergessen: Keine Linie soll hier bleiben. Sie sind dazu gedacht, als Anhaltspunkte für die spätere darüberliegende Malerei zu dienen. Sie sind zupackend, brauchen aber auch andererseits nicht 100% genau zu sein, denn die Feinheiten werden später mit Pinsel und Farbe ausgearbeitet. Das erklärt die nicht geglätteten Härten, die schroffen Striche, die uns eine ganze Menge über den unverstellten Blick des Zeichners auf die zu portraitierende Person verraten. Vergleicht man damit dann das fertige Gemälde, so geht es mit der Person etwas milder um. Gerade noch die Komposition selbst (Größe des Kopfes, Wachheit und leichter Spott im Blick, die merkwürdige Sitzposition innerhalb der Kissen mit den verschwindenden Armen) verweist auf die Quirlig- und Lebendigkeit dieser Person, nicht die Art des Farbauftrags z.B., wie es in der Aufrißzeichnung die Linien auch selbst zu transportiern verstehen. Direktheit und Rauheit in einer Zeichnung sind ganz eigene Qualitäten.

zu einer Zeichnung von Veronika Olma

Wir haben ein Querformat vor uns. Ein samtiges Schwarz als Hintergrund. Schwarz kann warm sein. Aus diesem Schwarz heraus leuchtet uns ein strahlendes Weiß entgegen. Weiß kann kalt sein. Ist es das in diesem Fall? Sofort können wir etwas erkennen: Das weiß leuchtende Denkmal eines Hundes. Eines in Weiß gehaltenen Hundes, mit Acrylfarben malerisch angelegt, auf einem sehr flachen Sockel sitzend aufgerichtet, seitlich gesehen, Blick zur Mitte des Bildes. Es könnte ein in Marmor gehauener Hund sein, wenn er nicht gleichzeitig auch so unerhört lebendigt wirkte. Die Vorderpfoten wie seitlich anliegende Ärmchen, den Schwanz zum Betrachter hin als Bogen auf dem flachen Sockel liegend. Die Darstellung dieses Hundes ist ausgesprochen präzise, sehr naturalistisch gehalten. Er ist der Aufmerksamkeitsfänger in diesem Bild. Er macht einen freundlichen Eindruck. Er ist wiedererkennbar. Wir mögen diesen Hund. Dieser Augenfänger befindet sich direkt rechts von der Mitte des Täfelchens. Er nimmt in der Höhe ziemlich genau die Hälfte des Formates ein und lässt oben und unten in etwa den gleichen freien Raum. Quasi mittig platziert. Überhaupt kann man sagen, dass sich das wesentliche Bildgeschehen auf einem proportional verschobenen Rechteck in der Mitte des Formates abspielt. Gemalt und gezeichnet ist das ganze auf eine Holztafel im Format 26 x 35,8cm. Dieses gedachte, proportional verschobene Rechteck, das die eigentliche Bühne für unser Geschehen darstellt, umfasst etwa 15 x 22cm. Nur einige wenige Linien finden den Weg über diesen inneren Bereich hinaus zum Rand des eigentlichen Formats. Rechts in diesem inneren Rechteck also unser Hundedenkmals-Hund. Nach links blickend. Was sieht er da? Ein weißes Liniengewirr. Mit weißer Kreide in großen Bögen aus dem Handgelenk gezirkelt, die Linien moduliert durch mehr und weniger starkes Aufdrücken. Man muss sich das so vorstellen, dass hier eine Linie in der unteren Hälfte des linken Bildrands ansetzt (also eine der wenigen Elemente, die sich außerhalb unseres Bildzentrums befinden) und sich schwungvoll in einer leichten Bewegung nach oben „verkringelt“, verdichtet, ein kreisendes Gewirr bildet, und, wiederum als eine Linie endend, sich in einem s-förmigen Schwung zur Schnauze des Hundes hinbewegt. Hinter dem Kopf des Hundes gibt es kleinkringelige Nachspiele, zwei verklingende Schwünge zum oberen Bildrand und eine Schleife vor dem Bauch des Hundes, die unterhalb des Sockels in einem kleinen Kreuz endet, das selbst wiederum ein sich vergrößerndes Echo unterhalb des rechten Ende des Sockels findet (auch dieses Echo ist eines der Elemente, das aus dem inneren Rechteckt zum eigentlichen Bildrand verweist).  Das alles wirkt sehr räumlich, es hat ein Vorne und Hinten, ein näher und weiter weg, formal vielleicht mit einem unwirsch aufgewickeltem weißen Draht vergleichbar; leichte Verwischungen der Kreidespuren vermitteln einem aber auch den Eindruck von Bewegung, in Zusammenhang mit der Farbe Weiß auch den von Lichtspuren. Linien, die sich als nicht ganz so wirr entpuppen, wie sie auf den ersten Eindruck erscheinen mögen, die aber verschiedene, nicht auflösbare Assoziationen in uns auszulösen vermögen: Draht, vielleicht sogar Stacheldraht, Bewegung, kosmische Lichtreflexe etc. etc. etc. Die Zeichnung inszeniert also Gegensätze: gestische Spuren, aus der lockeren Hand geschüttelt  im linken Teil, die zwischen schön und widerborstig changieren, trotzdem aber auch gegenständlich gelesen werden können, vielleicht sogar wollen. Daneben der – nicht aus dem Handgelenk geschüttelte, sondern penibel gemalte – Hund, was natürlich auch auf die sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten verweist, die hier aufeinandertreffen. Hell und dunkel. Klarheit und Tiefe. Langsam und schnell. Erkennbar und wirr. Oder doch weniger wirr als man denkt? Klarheit der Zeichnung und Tiefe des Raums. Wärme und Kälte. Wo finden wir jetzt die größere Emotionalität: in der spontan und teilweise unkontrolliert gesetzten Kringelgeste oder in der warmherzigen Ausarbeitung des Hundes, bzw. Hundedenkmals? Die Dinge widersprechen sich und widersprechen sich nicht. Das Kalt kann warm sein aber das Dunkel nicht hell. „Rotkäppchen lügt.“ – so heißt diese kleine Tafel.

korrektur

Diese Steinberg-Zeichnung ist, wie so manch andere in diesem Projekt, doch nicht ganz so einfach zu vertonen. Da denkt man, man habe jetzt eine Lösung gefunden, dann scheint es einem dann doch kurz darauf nicht so ganz passend, zu düster in der Grundstimmung, zu wenig Witz, den das Blatt ja auch transportiert, zuviel an Material, wo die Zeichnung ja eigentlich mit ganz wenig auskommt. Normalerweise werden diese Arbeitsschritte ja hier nicht alle veröffentlicht, in diesem Ausnahmefall dann doch, vielleicht ist es ja ganz interessant, das, was ich normalerweise für mich behalte, auch mal ein wenig mit nachzuvollziehen.

aus: der Radiozeichner: Nr. 23: zu einem Blatt von Saul Steinberg

Haben wir es hier mit einem Cartoonisten zu tun? Jedenfalls mit einem Zeichner, der seine Zeichnungen überwiegend zur Veröffentlichung in Zeitschriften und Büchern konzipiert hat. „Zeichnen ist Denken auf dem Papier“. Ein ausgeprägter Spieltrieb kann beim Denken aber sehr gut helfen. Unser Blatt ist kein ganz so typisches, dafür fehlt einfach die Farbe. Gerne hat er Buntstifte eingesetzt, manchmal auch aquarelliert, wie auch immer: unser Blatt ist ganz puristisch: nur schwarzweiß, nur ein einziger Stift. Vermutlich Bleistift oder ein Kreidestift – ganz genau lässt sich das aus dem Abdruck im Buch nicht erschließen – wichtig ist: keine harten Tuschelinien; trotz aller klar umrissener Gegenstände wirkt alles ein wenig angewärmt und nicht bissig. In den frühen Jahren gab es durchaus auch mal ein Blatt mit Feder in Tusche, mit der Verbesserung drucktechnischer Verfahren konnte er aber seiner Freude an farbiger Gestaltung durchaus mehr Auslauf bieten. Was haben wir nun vor uns?: Ein Querformat. Nicht ganz das, wohin uns unsere DIN-Formate verdorben haben, Höhe zu Breite sind etwas angenehmer verteilt, wenn auch das Ganze noch nicht Richtung Quadrat hin empfunden wird. In der Horizontale wird das Blatt durchgehend in der Mitte in ein deutliches Oben und Unten geteilt. Diese Klarheit der Trennung wird dadurch betont, dass diese Linie offensichtlich sogar mit einem Lineal gezogen wurde. Die Zeichnung gehört zu einer Folge von Blättern, die sich dem Thema der Spiegelungen verschrieben haben. Die trennende horizontale Mitte stellt also eine Spiegelachse dar. Gleichzeitig eine Art Horizont, beziehungsweise Begrenzung eines Sees. Oder etwa nicht? Und hier fängt dann auch das Verwirrspiel bereits an. Aber der Reihe nach. Was passiert nun entlang dieser offensichtlich wie gleichermaßen scheinbaren Spiegelachse? Beginnen wir am linken Blattrand. Direkt an diesem Horizont, nur kurz ins Blatt reichend, zwei leicht gekrümmte Linien, die eine kleine Insel bzw. Landzunge andeuten. Oben das Land, unten die Spiegelung. Darauf findet sich – etwas kräftiger gezeichnet – eine Art „T“, das wir gerne als Baum wiedererkennen dürfen. Und unterhalb unserer Spiegelachse natürlich als kopfstehendes „T“ der Umkehrschluss dieses Bäumchens. Das alles noch sehr sehr klein, quasi als Auftakt all dessen, was da noch kommt. Dieses Präludium findet seinen Nachklang am rechten Bildrand in Gestalt einer etwas weitläufigeren Landzunge, in ihren Mitteln aber ebenso einfach angelegt: zwei Linien, eine oben, eine unten, noch ein paar Schraffuren reingeschludert und fertig. Darauf ein Haus mit einem Schornstein, fast wie von Kinderhand hingezaubert: eine kleine Fabrik. Der Schornstein schickt seinen Rauch auf den Weg, der alsbald rechtwinkling zum Papierrand hin abbiegt und sich kurz vorher noch einmal verzweigt. Um das darzustellen reichen Steinberg gerade mal drei hingestotterte Linien. (In der Vorstellung nicht zu vergessen: die passende Spiegelung unterhalb!). Jetzt nochmal zurück zum Anfang am linken Blattrand. Neben der präludierten Landzunge finden wir, mit Großbuchstaben in den Himmel geschrieben, das Wort OHIO, das unterhalb unserer Spiegelachse, also im gedachten Wasser seine Wiederholung findet. Aber halt! Wieso eigentlich Wiederholung? Spiegelung wollten wir doch sagen. Und stimmt! O und H und I und O sind als Buchstaben alle an einer mittig gedachten Waagerechte spiegelbar und es verändert sich gar nichts. Mit OTTO könnte man das nicht machen. Oder mit MICHIGAN, schließlich sind wir ja hier bei einem amerikanischen Zeichner. Hier hat uns Steinberg also schon die ersten Falle gestellt. Weiter im Blatt. Etwas weiter rechts, aber immer noch in der Blatthälfte, jedoch mit der Tendenz zu oberen, bzw. unterem Blattrand: jeweils zwei Schwäne, schwimmend, seitlich gesehen, mit einfacher Linie krakelig gezeichnet, Köpfe nach links. Aber was ist das denn jetzt schon wieder?: Im Himmel können doch keine Schwäne schwimmen! Und wieso sind das sowieso zwei? Will heißen: wir haben sowohl im Himmel als auch im Wasser einen Schwan, der seine Spiegelung jeweils direkt bei sich trägt, schön mit kurzer Linie voneinander getrennt, ein Doppelwesen aus Schwan und Spiegelung. Und dieses Doppelwesen dann wieder gespiegelt im ehemals gedachten Wasserbereich. Sind unsere Annahmen denn so überhaupt noch haltbar? Der Blick sucht das Weite und flüchtet weiter nach rechts. Und wieder findet sich ein Wort. Das kennen wir ja schon von OHIO. Doch was steht da in unmittelbarer Nähe zum Horizont (es war doch der Horizont, oder?): das Wort STAR. Stern. Schön. Das könnte man als Spiel deuten mit Abbild, Wort und Wirklichkeit, statt einen Stern zu zeichnen, schreibt er das Wort dafür ins Bild. Und auch noch in den Himmel. Prima. Das passt wieder. Doch bei S und T und A und R gibt es keine erkennbare Spiegelachse. Ein vorsichtiger Blick nach unten und wir sind perplex. Keine horizontale formale Spiegelung findet statt, sondern eine vertikale verbale. Aus dem STAR werden die RATS. Aus dem Stern werden die Ratten. Keine Buchstaben vertauscht, einfach einmal von hinten nach vorne. Und über die semantische Fallhöhe zwischen dem Stern und den Ratten im Wasser wollen wir hier gar nicht erst mal nachdenken. Gehört aber in die Schublade mit all den Ideen, die man selbst gerne gehabt hätte. Mit all dem lässt uns Steinberg allerdings nicht gang alleine. Am sehr unteren Bildrand gibt es eine weitere Linie von links nach rechts. Sie bezeichnet das Ufer, sicheres Land. Hier ebenfalls noch ein paar hingschleuderte Schraffurandeutungen, um es ein wenig fester erscheinen zu lassen, aber ja nicht zu sehr ausführen das alles. 1/4 vom rechten Blattrand entfernt: die Silhouette eines Mannes mit Hut. Er steht mit Blick zum See und betrachtet das alles in aller Seelenruhe und macht sich wohl keinerlei Gedanken über die beiden Schlagschatten, die unterhalb seiner Beine wachsen und schräg nach links aus dem Blatt führen. What you see is what you get.

Ergänzung um einen weiteren Versuch:

Nr. 21: Arnulf Rainer: „Im Gewirre gefangen“

Ein hochformatiges Blatt. Nicht zu klein. 59,8cm x 47,6cm. Hier herrscht Unruhe. Bewegung. Nervosität. Bedrohung. Wir sehen was? Wir sehen eine männliche Figur von vorne. Sie trägt Hose und Hemd. Hose und Hemd in derselben Farbe. Diese Person hängt merkwürdig im Blatt. Wir erkennen einen schmalen dunklen Gürtel. Graue Hose, graues Hemd. Der Kopf ist nach vorne gebeugt, wir sehen nur einen schwarzen Haarschopf. Die Beine: Knie nach außen, Zehen wieder zusammen, so dass durch Ober- und Unterschenkel eine Raute entsteht. Der linke Arm der Person greift etwas weiter nach hinten aus. Und jetzt glauben wir es zu verstehen: Wahrscheinlich eine von schräg oben-vorn aufgenommene Boden-Sitzposition. Wir müssen wissen: die Figur ist eine Fotografie. Der rechte Arm der Person etwas näher am Körper. Die komplette Figur ist überzogen von einem wirren Gewirr an Bleistiftlinien. Kleinen Hieben, die wie Nadelstiche wirken. Gekräuselten Linien, gekringelten Linien, die das Ganze auratisch umschwirren. Auf alle Fälle: mit hoher Geschwindigkeit gezeichneten Linien. Eine spontane Reaktion auf die abgebildete Figur. Ein Gezingel und Gezüngel. Verwischte Linien. Und nochmal eine Lage drüber.  Solche Linien gehen nicht langsam. Sie gehen nicht bedacht. Sie wollen und sollen nicht denken. Sie sollen reagieren. Kämpfen. Adaptieren. Verändern. Sich anpassen und erweitern. Das Liniengewirr überzieht also nicht das gesamte Blatt, sondern nur die Figur und das  nähere Umfeld der Figur. Die Figur ist eine Abbildung des Zeichners selbst. Er erscheint also doppelt im Blatt: Als wiedererkennbare, wenn auch unter einem gewissen irritierenden Aspekt aufgenommene Person und als eigene, nervöse Reaktion auf dieses Abbild. Ein hoher Grad an Emotionalität. Rechts unten hingeschrieben der Titel des Blattes und die Signatur. Beides eher wütend gezeichnete Linien als klassische Schrift. Der Titel des Blattes: „Im Gewirre gefangen“. Arnulf Rainer hat vorwiegend in Serien gearbeitet. Er wühlt und suhlt in den Linien, um den Dingen auf die Spur zu kommen. Ein hochnervöses Kreisen und Kritzeln und Wüten, um sich die Dinge handhabbar zu machen. Die dunkelste Stelle hier in diesem Blatt: das Wuschelhaar des Kopfes, das so überzeichnet ist, dass man es nicht als Wuschelhaar, sondern als dunkle energetische Kugel wahrnimmt.

Canetti, ein ganz anderes Naturell, schreibt zu seiner eigenen Arbeit: „Mir geht es nicht um Formulierfreude als Selbstzweck, das wäre ja eine simple literarische Eitelkeit, ich will vielmehr… die Leute überzeugen, dass ich nicht nur schreibe, sondern den Dingen wirklich nachspüre.“ Arnulf Rainer in einem Gespräch mit Friedhelm Mennekes: „…Der Künstler stellt sich die höchsten idealen Ansprüche an sich selbst und an spirituelle Systeme und muss doch zugleich im Alltäglichen, in dem Vorläufigen, in erbärmlichsten Mülldeponien sich bewegen bzw. diese bewegen. Er muss sich dem Materiellen stellen und es transponieren. . . .  Um den großen Zusammenhang ringen. Alles andere wird einem ja nachgeschmissen. …“

 

 

Nr. 20: zu einer Zeichnung von Ute Thiel

Man sollte sich dieses Blatt (30x24cm, Hochformat, warm wirkendes Seidenpapier, so ein Papier, wie man es gerne für kalligraphische Studien benutzt) auf einem Ateliertisch (Holzplatte) in der Sonne liegend zwischen ebensolchen kalligraphischen Übungen vorstellen. Das Blatt selbst ist keine kalligraphische Übung, und dann auch wieder doch. Mit Pinsel gezeichnet, warme Linien, warm wirkendes Tusche-Schwarz. In der oberen Hälfte des Blattes ein Gesicht, das uns anblickt. Das Gesicht einer Frau. Links beginnt das Ohr mit zwei eleganten Schwüngen, in einem Pinselzug geht es weiter und markiert linke Wange und Kinn und rechte Wange und läuft, die Linie dünner werdend, über der von uns aus gesehen rechten Augenbraue aus. Das Gesicht selbst sehr einfach gehalten: Die Nase ein links offener Haken nach oben, der Mund eine einfache Wellenlinie. Aber was für eine Wellenlinie! Mit dem Tuschepinsel wohl auch links angesetzt (denn hier ist die Linie etwas angedickt, dies ist oft der Fall, wenn sich im Ansatz der Linie einfach noch etwas mehr Tusche im Pinsel befindet- – – wobei es in der chinesischen Kalligraphie auch genau den umgekehrten Weg gibt: man beginnt leicht und endet mit einer kräftigen Betonung durch Druck auf den Pinsel; ich wäre mir hier also nicht ganz so sicher) – kleiner kurzer Schwung nach oben, längerer Schwung nach unten und rechts leicht ausschwingend: lacht dieser Mund, lächelt er, hält er im Lächeln inne, drückt er vielleicht sogar etwas Zweifelndes aus? Es bleibt ambivalent in dieser einen Linie und das ist etwas, dem wir uns nicht entziehen können. Die Augen, beide fast gleich gemacht: zwei kräftige Punkte mit jeweils einem Halbkreis darüber. Die Augenbrauen: links ein Halbkreis, nach unten offen, nach oben gerundet, über dem rechten Auge ein geringer gebogener, fast zarter Schwung. Der Halbkreis über dem (immer von uns aus gesehen) linken Auge: sehr dicht am Augenpunkt dran, der rechte Bogen nimmt etwas Abstand. Diese wenigen Differenzierungen in der angelegten Einfachheit erzeugt eine soghafte Wirkung. Wir können uns diesem Blick kaum entziehen. Und auch hier: Ambivalenz. Das hat gleichzeitig etwas Freches, Schlitzohriges, aber auch etwas Freundliches. Hier spricht Schalk genauso wie Ernst. Am linken Ohr ansetzend ein zum linken Blattrand führender Schwung, abgebremst durch eine kurze Bewegung nach rechts: der Ärmel einer Bluse, eines Shirts. Von unten dagegen laufend eine Linie, die in ihrer Mitte einen Kringel beschreibt und dann zum „Ärmel“ aufschließt. Locker rechts daneben gesetzt wieder ein sehr leichter und mit nichts auf direktem Weg verbundener Schwung (man kann diese Linien einfach nicht anders als als Schwünge sehen – und so sind sie auch gemacht: jeweils in einem Zug hingeworfene Tusche-Spuren). Linie mit Kringel und rechts daneben gesetzter Schwung markieren einen Arm. Der Kringel ist der Ellenbogen! Ein kleiner widerborstiger Ellenbogenkringel am linken unteren Rand des Blattes, der formal jetzt nicht so wirklich aufdringlich daherkommt, sich aber wunderbar auf die beiden Augenpunkte mit ihren Halbkreisen reimt. Unter dem Kopf: Ein Schwung mit Haken nach oben, an der linken Wange ansetzend (ach: jetzt sieht man es erst auf den zweiten Blick: es könnte auch so sein, dass Ohr und linke Wange und dieser den Ausschnitt des Gewands markierende Schwung auch aus einem Guss sein könnten, und die zweite Gesichtshälfte extra angesetzt…hmm). Wie auch immer: an der rechten Wange enden zwei Linien, die die Anmutung des Ausschnitts des Gewandes vervollkommnen. Ein Blatt auf einem Tisch mit kalligraphischen Übungen. Ein Blatt, das auf einem fast schon zum Wegwerfen gedachten Papier gezeichnet wurde. Ohne große Absicht. Und wahrscheinlich liegt darin das Geheimnis: all diese vielen locker und selbstverständlich gezeichneten Schwünge, die an asiatische Kürzel nicht nur erinnern, nein, diese aufgreifen, adaptieren und sie mit unserer europäischen Sichtweise verbinden, die genau an dem Platz sitzen, an dem sie sitzen müssen, enthalten genau das, was sie enthalten können. Zur Beschreibung hatte ich einen Ausdruck eines Scans des Originals auf dem Schreibtisch liegen, dann an der Wand hängen. Je öfter man dieses Blatt betrachtet, je öfter zufällig der Blick darauf fällt, desto häufiger bleibt er hängen, desto weniger kann man sich diesem Blatt entziehen. Übrigens: ein Selbstportrait!

Tusche auf Seidenpapier, 30x24cm, entstanden im Herbst 2011 in Nanhua/China.

aus: der Radiozeichner: zu einer Zeichnung von Jörn Peter Budenheim

Bei dieser Zeichnung handelt es sich um ein kleines, DIN-A5 großes, Papier, Hochformat. Motiv und Material sind überschaubar. Ein klares Blatt mit klaren Gedanken und klaren Linien. Rechts sehen wir einen mit dickem Filzstift gezeichneten Stuhl, einen einfachen Stuhl, einfach gezeichnet, man sieht nur drei Stuhlbeine. An den Füßen der Stuhlbeine ist jeweils ein kleiner Schatten notiert, ebenfalls mit schwarzem dicken Filzstift angebracht. Und „angebracht“ beschreibt hier genau die Art und Weise, wie wir uns das vorstellen müssen. Als wären die Schatten wie kleine flatternde Fähnchen montiert. Die Stuhlbeine selbst jeweils mit drei Linien angesetzt, ein wenig an so etwas wie Perspektive erinnernd. An den linken Stuhlbeinen findet sich ein zartdunkelgelber Fleck, der sich wohl bereits auf dem Blatt befand, bevor die eigentliche Zeichnung dazugekommen ist. Dieser leicht wirkende Fleck gehört nun aber mit zur Familie und spielt seine Rolle nicht schlecht. In seiner zufällig wirkenden Form und der Leichtigkeit der Farbgebung schafft er einen Ausgleich zur Strenge der Konzeption des eigentlichen Motivs, macht das ganze leichter, betont vielleicht sogar die Leichtigkeit des dem Blatt zugrunde liegenden Gedankens, schafft Platz und Luft und Raum. Auf dem Stuhl befindet sich ein Kopf. Kein Körper. Nur der Kopf mit dem oberen Teil des Oberkörpers, wie wir das von klassischen Portraitbüsten her kennen. Im Profil nach links gesehen. Mit dünnerer Linie und sehr locker angelegt, in der Hauptsache die Umrisslinien betonend; eine Brille und ein Ohr und ein angedeuteter Kragen die wenigen Binnenformen, die das ganze etwas genauer bezeichnen. Dieser Kopf mitsamt der Rücklehne des Stuhls, die nichts mehr ist als eine kräftige gebogene Linie, die auf dem Hut des Kopfes endet, nimmt so ziemlich das gesamte rechte obere Viertel der Zeichnung ein. Ein im Verhältnis zum Stuhl sehr großer Kopf. Die schwungvolle Lockerheit der Linien dieser Portraitbüste sowie der Gesichtsausdruck sagen uns: das ist aber keine Büste, das hier ist lebendig! Und es befindet sich direkt auf der Sitzfläche des Stuhls (die keine Fläche ist, sondern eine einzige waagerechte kräftige Linie). Es sitzt nicht. Es befindet sich auf. Stuhl und Kopf als Einheit. Ein menschlicher Körper wird nicht gebraucht. Der Stuhl ist der Körper des Kopfes! Und der Kopf der Kopf des Stuhls. Der Kopf eines schon etwas älteren Herrns mit Hut. Das hatten wir, glaube ich, noch gar nicht erwähnt. Man denkt sich unwillkürlich: müsste man diesen Herrn erkennen? Könnte es sich um einen Philosophen handeln? Oder um Magritte? Duchamp? Einen Naturwissenschaftler? Oder muss man ihn gar nicht kennen? Steht er einfach nur für einen älteren Herrn mit Hut? Er blickt von uns aus gesehen nach links, ins Blatt hinein. Eine Sprechblase wurde ihm beigegeben:  „Was man mit der Nase sieht“ steht da drin. Oberhalb der Sprechblase ein schwarzes „Sternchen“, so wie man es etwa bei Fußnoten verwendet (wobei es hier allerdings keine Fußnote gibt). „Was man mit der Nase sieht“ hat schon jemanden an Saint-Exupéry erinnert: man sieht nur mit der Nase gut – quasi. Oder mich sogar an Joseph Beuys‘: Ich denke sowieso mit dem Knie. Die Nase endet unten genauso in einer Spitze wie das rechte Ende der Sprechblase. Beide Spitzen kommen sich in der Zeichnung sehr nah. Mit der Nase sprechen. Mit der Nase sehen. Mit den Ohren denken. Die Gedanken scharf stellen vermittels eines Stuhls, einer Büste, eines Sternchens und einer Sprechblase. Die Gedanken unscharf stellen. Um sie wieder putzen zu können.