Schlotterdeich

In der ZEIT vom 8.4.2020 ein Interview mit Peter Sloterdijk. Folgender Auszug. Including my new Lieblingswort.

Sloterdijk: Wir erleben ein großes medientheoretisches Seminar. Man erkennt, im Ausnahmezustand entsteht Monothematismus. Dann sieht man erst richtig, wie moderne Gesellschaften in ihren Stimmungen von Tag zu Tag gewoben sind. Dank der Medien leben wir in Erregungsräumen, die durch wechselnde Themen gesteuert werden. Themen sind Erregungsvorschläge, die von der Öffentlichkeit angenommen werden oder nicht. Dabei schießen die Medienmacher immer etwas Übertreibung zu. Denken Sie an die AfD-Aufregung im Lande: Sie ist ein Luxusthema für unterbeschäftigte Übertreiber. Denken Sie an die Me-Too-Welle: Sie hatte einen ernsten Kern, um den lagerten sich sofort die Übertreibungsunternehmen an. Denken Sie vor allem an den Terrorismus. Über den wurde zumeist im Modus der Halbernsthaftigkeit berichtet, man durfte und musste immer zusätzlich übertreiben. Ein Mann wird getötet, 82 Millionen sollen sich bedroht fühlen, die freiheitliche Demokratie wankt.

ZEIT: Sie meinen, die Medien verfehlen ihre Aufgabe, maßvoll zu informieren?

Sloterdijk: Aus der Sicht der Medien ist etwas, das passiert, nie schlimm genug. Man weiß ja nie, was wie schlimm ist. Das entspricht im Übrigen der klassischen Rhetoriklehre. Quintilian sagte: Bei Gegenständen, deren Bedeutung und Dimension nicht sicher bestimmt werden können, ist es besser, zu weit zu gehen als nicht weit genug.

ZEIT: Und jetzt übertreiben wir bei Corona?

Sloterdijk: Bei Corona erleben wir zum ersten Mal, dass die Anfangsübertreibungen durch die Geschehnisse eingeholt werden. Das ist ganz neu. Zuerst dachte man, die Medien schreiben die Dinge hoch, weil es ihr Job ist, zu übertreiben. Aber nein, heute ist eine nüchterne Beschreibung der Verhältnisse in italienischen, französischen, spanischen Krankenhäusern schlimm genug, um Nachrichtenwert zu haben; tendenziell ist es sogar zu schlimm für realistische Berichte. Wir zählen Leichen, für Übertreibungen ist kein Platz mehr. Die Medien würden jetzt lieber die Probleme verkleinern, statt zu dramatisieren. Die Zahlen steigen, die Bilder halten sich zurück. Sehr ungewohnt.

 

Und jetzt zu meinem new Lieblingswort: Themen sind Erregungsvorschläge! C`est ca, je crois. Wenn ich klug gewesen wäre, hätte ich gerne bei Schlotterdeich studiert. Aber so blieb nur die verborgene Karriere als Kritzelonkel.

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